Donnerstag, 30. November 2006

Hey

Donnerstag, 30. November. High Noon am Tag der Eröffnung einer Ausstellung von Tino Sehgal. "Hey" ruft eine Stimme in den Treppenaufgang zum Bürotrakt des Hamburger Kunstvereins. Das ist mein, unser Einsatz. Ich springe auf, Treppe runter, dann gemessenen Schrittes durch das Foyer Richtung Ausgang, links auf den Parkplatz, über den Parkplatz in den Turm. Dort gehe ich auf den ersten Stufen der Turmtreppe in Stellung und beoachte den Eingangsbereich. Es ist ziemlich laut hier, der Verkehr zwischen der nördlichen Deichtorhalle und dem Kunstverein rauscht, hinter mir der Hauptbahnhof, Züge rumpeln über die Gleise. Ich lausche, denn zu lauschen ist hier meine Aufgabe, irgendetwas aufzuschnappen von der Unterhaltung der beiden, die dort gleich um die Ecke biegen werden und in den Turm eintreten werden: ein Besucher der Ausstellung und ein Interpret.
Ja, wir sind die Interpreten des Werkes von Tino Sehgal. Wir sind mehr als Laiendarsteller, denn die müssen ja eine ziemlich genau definierte Rolle ausfüllen. Wir hingegen haben Spielraum, Freiheit, das macht die Sache leicht und schwer zugleich.
Wer mag da gleich mit Tobias um die Ecke kommen. Ein Mann, eine Frau? Wie wird es mir gelingen, mit ihr, mit ihm ins Gespräch zu kommen? Aha, aufgepasst. Ein älterer Herr, um die 60. Altachtundsechziger? Es ist laut, Züge rattern, ich verstehe kein Wort, muss die Treppe rauf, aber in der Nähe bleiben, unerkannt möglichst, jedenfalls mein Gesicht sollen die Besucher nicht sehen. Eine Beschattungsaufgabe, ein Stück Stasi sozusagen. Aber nicht in drangsalierender Absicht. Das einzige, was ich aufschnappen kann: es geht irgendwie um die FAZ, die Frankfurter Allgemeine Zeitung, laut Rudolf Augstein die "vielleicht wichtigste Zeitung im Land". Die "vielleicht beste Zeitung im Land" war seiner Meinung nach allerdings die Süddeutsche. Ich lese die taz und bleibe dran, eile auf meine nächste Position. Die Stimmen kommen näher. Dann trete ich hervor, biege um die Ecke, mische mich ein. Mit einem Satz, der Gehörtes aufnimmt und ein Gespräch eröffnet. "Ich habe den Eindruck, dass sich die FAZ in den letzten 30 Jahren sehr verändert hat." Der Besucher ist einen Moment irritiert über mein Hereinplatzen. "Ja", sagt er dann, "das kann man sagen." "Das ist Jörg", stellt mich Tobias vor. Wir schlendern weiter durch die weißen, hellen Räume des Kunstvereins, das Gespräch dreht sich um die FAZ, der Besucher ist der Meinung, dass insbesondere die Kulturseiten zu bloßen Propagandainstrumenten eines Herrn Schirrmacher heruntergekommen seien, der mit Aust, Diekmann und Döpfner unter einer Decke stecke. Wir treten in einen weiteren Raum ein. Tobias ist mittlerweile verschwunden. Der Besucher notiert es und irgendwie kommen wir durch sein Bemerken auf die Lage der Generation des 19-jährigen Tobias zu sprechen, der berühmten Generation Praktikum, einer Generation, nach der niemand ruft. Ganz anders, bemerkt mein Gesprächspartner, als zu seiner Zeit. Er habe direkt nach dem Studium eine ganze Reihe von Arbeitsangeboten erhalten, ohne sich überhaupt groß beworben zu haben. Dieser Unterschied beschäftigt uns weiter, die Kontingenz der eigenen Position in der Geschichte, eine Position der offenen oder geschlossenen Türen, Situationen, die man nicht beeinflussen kann, in die man hineingeworfen ist, mit denen man zurechtkommen muss. Ist das gerecht?
Wir nähern uns dem Raum drei. Es geht auf den Spalt zu. Zwei schnelle Schritte und ich verschwinde in der Lücke, meine Kollege tritt hervor, nennt seinen Namen und sagt: "Der Titel dieser Arbeit lautet: Dieser Fortschritt."
Manche dieser Gespräche beschäftigen einen noch länger. Hier die Wahrnehmung der generationellen Positionalität: dem einen standen alle Türen offen, gut dreißig Jahre später sieht die Welt ganz anders aus. Höhere Gewalt? Warum?
Ich melde mich wieder am Freitagabend, 15. Dezember, nach meiner nächsten "Schicht".
Bis dahin,
Jörg Herrmann

Sonntag, 26. November 2006

Ein Kunstwerk werden

Am Donnerstag dieser Woche, am 30. November 2006, werde ich Teil eines Kunstwerkes von Tino Sehgal. Dann eröffnet Tino Sehgal seine Ausstellung im Hamburger Kunstverein. Ich werde in dieser Ausstellung mitwirken und mithelfen, seine Idee interpretierend zur Aufführung zu bringen.
Wie fühlt man sich als Teil eines Kunstwerkes? Was gibt es dabei zu erleben? Wie ist es, betrachtet und erfahren zu werden? Wer wird kommen? Und wie vor allem wird sich all dies aus der Perspektive eines theologischen Beobachters ausnehmen, der ich bin? Ich werde darüber einmal in der Woche berichten und die Erfahrungen meiner wöchentlichen Dreieinhalbstundenschicht in Tino Sehgals Choreographie an dieser Stelle veröffentlichen.
Am Donnerstagabend können Sie meine ersten Notizen lesen. Also, schauen Sie dann mal rein.
Bis dahin,
Jörg Herrmann