Samstag, 16. Dezember 2006

Fortschrittsfetzen

Eigentlich wollte ich ja schon gestern schreiben. Aber als ich um 23.55 Uhr schließlich so weit war, an das Bloggen denken zu können, da war es einfach zu spät, waren die Grenzen des Körpers erreicht und überschritten. So musste dieser kleiner Bericht über meine Nachmittagsschicht am gestrigen 15. Dezember als Interpret von Tino Sehgals Arbeit "Dieser Fortschritt" im Hamburger Kunstverein bis jetzt warten.
Mein letzter Auftritt lag zwei Wochen zurück und ich war gespannt, von den anderen zu hören, wie sich die Resonanz entwickelt hatte. Als ich in den Aufenthaltsraum der Mitwirkenden eintrat, wurde ich zu meiner Überraschung von einem mir bisher noch unbekannten Interpretenkollegen namentlich begrüßt. Es stellte sich heraus, dass er vor einigen Jahren an einem Kunsthistorischen Seminar über Religion im populären Film teilgenommen hatte, das ich geleitet hatte. Damals hatte er sich als erbitterter Gegner meiner Thesen profiliert. Heute, so bemerkt er, stimme er mir vollkommen zu. Die siebte Kunst, das Kino sei voller Religion. Späte, unerwartete Versöhnung.
Doch was ist mit der Kunst von Tino Sehgal? Und wer will diese Kunst sehen? Eine Kunst, die man nicht greifen kann und die sich je anders vollzieht, die man sich nicht an die Wand hängen kann und deren Qualität von der kontingenten Begegnung von Menschen abhängt.
Kaum BesucherInnen am Vormittag berichtet man mir, auch gestern wenig Zuspruch. Aber es hatte auch schon andere Tage gegeben, mit Schlangen und Engpässen.
Heute sah jedoch alles nach einigen Plauderstündchen mit meinen Mitinterpreten aus und nach "Zeit"-Lektüre, nach Unterbrechung, die man besonders als Theologe in der Adventszeit gut gebrauchen kann, nach Religion also, traut man der laut Johann Baptist Metz kürzesten Definition für Religion: Unterbrechung eben.
Doch nach vielleicht vierzig Minuten kommt das Hey. Besucher gesichtet. Rezipienten. Betrachter. Publikum. Auf die Plätze. Von nun an geht es Schlag auf Schlag. Ich kehre gar nicht mehr in unseren Aufenthaltsraum zurück, schaue nur, ob sich nach meinem Auftritt wieder neue BesucherInnen im Anmarsch befinden und nehme gleich meinen Lauschposten im Turm ein. Es geht nun wirklich los und ab, so dass es schwierig wird, die Gespräche auseinanderzuhalten und sich die Erinnerungen daran bis heute vollends zu einem Konglomerat von Themen und Fetzen vermischt haben.
Am besten war gestern, als wir in der letzten ruhigen halben Stunde Rückschau auf die Besucher hielten, unser ältester Mann orientiert, der Kollege Hans-Jürgen, der mich auf dem Parcour ablöst, indem er den Besuchern entgegentritt, wenn ich am Ende meines Kurses mit schnellen Schritten in einer Raumspalte verschwinde. Er kann sich offenbar leichter und präziser erinnern, vielleicht auch, weil sein Auftritt mit einer stärkeren von ihm selbst gestalteten Setzung verbunden ist. Er hält den BesucherInnen nämlich einen kleinen Vortrag, beansprucht aufgrund seines Alters mehr Autorität als ich, der ich nur auf einem bestimmten Kurs mit ihnen durch die Räume schlendere und mich bemühe, ein Gespräch zu führen, das vorher Gesagtes und Belauschtes aufgreift und sich dabei, ganz grob jedenfalls, im Rahmen der Fortschrittsthematik bewegt.
Was mich jedenfalls heute noch beschäftigt: Die Ethnologin, der ich mit meiner Frage nach den Maßstäben für ein Besser oder Schlechter entgegengetreten war und die mir mit einem gruppenbezogenen Werterelativismus geantwortet hatte. Die Deklaration der Menschenrechte hätten Anthropologen und Ethnologinnen auf der Basis dieses Konzeptes als imperialen und darum abzulehnenden Universalismus gebrandmarkt, als Versuch einer Gruppe, der Welt ihre Werte aufzwängen. Jede Gruppe sollte hingegen nach den in ihrem Kontext gewachsenen Regel leben können, ohne Störungen und Einmischungen von außen. Aber, so frage ich zurück, sollen wir dann die Ehrenmorde akzeptieren und die Genitalverstümmelung bei afrikanischen Mädchen? So will sie nicht verstanden werden: Wenn andere Gruppen mit differenten Wertesystemen bei uns leben, in unserem Rechtsraum, dann müsste solches Verhalten selbstverständlich am hier geltenden Recht gemessen werden und Verstöße geahndet werden. Wir kommen darauf, dass die Globalisierungsdynamik natürlich das Problem der Verständigung und der Konflikte verschärft. Aber ehe wir diese Frage nach dem Verhältnis von Wertepluralismus, Werterelativismus und einheitlichen Rechtsräumen vertiefen können, bin ich verschwunden. Hans-Jürgen übernimmt.
Fortschritt, ein vieldeutiger Begriff. Technischer Fortschritt, moralischer Fortschritt. Dazwischen liegen Welten. Und nicht zuletzt persönlicher Fortschritt. Aber was ist das? Darum dreht sich zunächst das Gespräch mit zwei etwas älteren Damen und einem Herrn. Der Mann wirft ein, dass es, wenn man Luthers Theologie ernst nehme, eigentlich keinen Fortschritt geben könne. Der Mensch, dem Scheitern und der Sünde ausgeliefert. Warum rackern wir uns dann so ab? Warum die Mühen, wenn der Fortschritt in Sachen Gerechtigkeit doch nur ein vorübergehendes Aufbäumen ist, dessen Effekte verpuffen?
Irgendwann kommt ein Kunstseminar und bringt unweiterlich seine Themen mit. Drei junge Studentinnen. Wir sprechen über Konkurrenz und Wettbewerb. Der oder die beste solle gewinnen. Ich will jetzt doch mal wissen, wie diese jungen Frauen ihre ganz persönliche Berufsperspektive sehen. Die Statistiken sprechen bekanntlich eine eindeutige Sprache: nur wenige Prozent der KunstabsolventInnen können später von ihrer Kunst leben. Ja, das sei ihnen bewußt. Aber sie würden schon mit dem Ehrgeiz antreten, einmal zu diesen Wenigen gehören zu wollen. Hier muss man an sich glauben. Ob sie das auch so sehe, frage ich eine der drei Ladies, die sich bisher kaum geäußert hatte. Früher schon, aber, so räumt sie ein, mit den Jahren des Studiums sei auch Ernüchterung eingekehrt. Immerhin könne man ja auch andere Jobs machen, um seine Brötchen zu verdienen. Kunst und Kellnern? Während Meese und Richter absahnen, weil ihre Sachen gerade passen, weil sie Glück haben: weil die Kombination aus genetischen Voraussetzungen, biographischen Hintergründen, individueller Ambition und soziokultureller Position gerade ins Bild passt. Kunst-Lotterie. Wenige Hauptgewinner, viele Verlierer. Teilnehmen bedeutet die Chance auf einen Hauptgewinn, aber die Wahrscheinlichkeit leer auszugehen, ist, wie beim Lotto, unendlich viel größer. Diese drei haben sich für die Teilnahme entschieden. Glückauf!
Zum Glück, so assoziiert der Theologe, ist Weihnachten immer noch eine Veranstaltung, bei der im Prinzip alle beschenkt werden oder jedenfalls beschenkt werden sollen. Eine Veranstaltung gegen das Lotterie-Prinzip. Jedenfalls von seinen Wurzeln her gesehen.
Ich melde mich am 29. Dezember wieder an dieser Stelle.
Bis dahin: frohe Weihnachten!
Jörg Herrmann

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