Samstag, 23. Dezember 2006

Offenheit und Dichte

Leider melde ich mich wieder einmal mit einem Tag Verspätung. Es ging nicht anders. Als ich gestern um 18 Uhr von meiner Schicht im Kunstverein kam, war noch einzukaufen. Dann die Gäste und es wurde spät, zu spät.
Zwei BesucherInnen sind mir noch besonders im Gedächtnis. Eine mittelalte Frau und ein noch etwas jüngerer Mann mit schwarzen Haaren. Bei der Frau wagte ich einen recht persönlichen Einstieg. Ich hatte aufgeschnappt, dass sie von der Reife des Kindes am Eingang beeindruckt war. Auf der Basis dieser Wahrnehmung stieg ich mit der Beobachtung ein, dass mir bei meiner vierjährigen Tochter schon wiederholt aufgefallen ist, wie viel sie schon kann, und dass ich bei ihr, aber auch bei anderen Kindern gelegentlich den Eindruck habe, sie seien viel kompetenter als ich selbst es im gleichen Alter war. Die Besucherin stimmt mir zu, sie mache ähnliche Beobachtungen und wir vermuten, dass es sich um einen Trend handelt. Hat sich also die Entwicklung der Kinder beschleunigt, lassen diese Beobachtungen im Blick auf die Verbesserung des Menschen und der Welt hoffen? Wir räsonnieren noch ein wenig über diese Frage, ohne konkretes Ergebnis, aber in einer freundlichen spekulativ-meditativen Atmosphäre. Bis ich schließlich verschwinde.
Der Mann ist demgegenüber ein harter Brocken. Er entpuppt sich bald als Künstler und will genau das tun, was Tino Sehgal als Todsünde gebrandmarkt hat: er will über die "Arbeit" von Sehgal sprechen. Ich erläutere ihm, dass ich, wenn ich mich darauf einlasse, ein Tabu verletze, dass mir aber in der Freiheit des Interpreten diese Überschreitung erlaubt ist und ich also ausnahmsweise auf seinen Wunsch eingehen wolle. Der Künstlerbesucher moniert gleich zu Beginn, dass das aufgeführte Werk von Sehgal "zu offen" sei. Er habe in Berlin schon etwas anderes gesehen, erlebt, dass ihm weitaus besser gefallen habe. Der Zuschauer wurde dort mehr bedrängt und herausgefordert, die Hamburger Anordnung plätschere demgegenüber so vor sich hin und sei ihm letztlich "zu lahm". An genau diesem Punkt beschleunige ich mit schnellen Schritten und entziehe ich mich der Kommunikation und lasse ihn mit seiner Klage über die Lahmheit allein zurück.
Es hängt natürlich bei dieser "Arbeit" ganz klar an dem, was sich jeweils zwischen BesucherIn und InterpretIn ergibt. Das kann lahm sein oder werden, kann aber auch erstaunliche Intensitäten erreichen, die Intensität von Gesprächen, wie man sie auch aus Begegnungen in Zügen kennt, wo man weiß, dass man seine GesprächspartnerIn vermutlich nie wiedersehen wird, was manchmal dazu ermutigt, in durchaus unüblicher Offenheit miteinander zu sprechen. Gespräche unterwegs sozusagen, während des Gehens und Fahrens. Im Neuen Testament gibt es auch so ein Gespräch auf Reisen: Philippus steigt beim Kämmerer auf den Wagen (Apostelgeschichte 8, 26-42). Während der Fahrt nach Jerusalem redet er mit dem Gottsucher aus dem Morgenland, erläutert ihm den Propheten Jesaja. Dem Kämmerer erschließt sich daraufhin der Sinn der neuen Religion der Christen und er will prompt getauft werden. Das geschieht auf der Stelle, als ein Fluss in Sicht kommt, und, so heißt es weiter, "er aber zog seine Strasse fröhlich". Das Reisegespräch, die Kommunikation von Unterwegsseienden ist hier von existenzieller Bedeutung. Fahrende und Gehende, die Schrift und Erfahrung interpretativ erschließen, können sich offenbar zu einschneidenden Einsichten verhelfen. Warum sollte das nicht auch für den Kunstverein gelten? Man müsste die BesucherInnen einmal befragen und eine qualitative Studie durchführen.
Ich melde mich erst im neuen Jahr wieder, am 4. Januar oder auch, wenn es wieder eng wird, erst am 5. Januar. Frohes Feiern und bis dahin,
Jörg Herrmann

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