Heute, am 14. Januar 2007, ist die Ausstellung von Tino Sehgal zu Ende gegangen. Es war ein Sonntag mit 160 Besuchern. Wenn man bedenkt, dass eigentlich immer nur ein oder zwei Besucher oder in Ausnahmefällen eine kleine Gruppe zu gleicher Zeit die Arbeit besuchen können, sind 160 sehr viel.
Heute nun hatte Tino Sehgal alle Interpreten im Anschluss an die letzte "Schicht" noch zu einer generationenübergreifenden Zusammenkunft eingeladen. Es gab ein von allen bestrittenes Bufett, eine Dankesrede des Künstlers und viele Erzählungen von schlimmen und lustigen Erlebnissen mit Besuchern der Arbeit (darunter natürlich auch bekannte Kuratoren, Künstler, Sammler und Kritiker). Es war ein wirklich netter und sehr unterhaltsamer Abend. Viel wäre darüber zu sagen. Ich will nur zwei Fragen jetzt zum Schluss noch einmal aufgreifen. Die eine hat der Kommentar des "grünen Auges" vom 2. Dezember aufgeworfen. Das grüne Auge hatte meine Aufgabe als spannend und unwirklich bezeichnet und gefragt, wie die Besucher auf "diese Art der Offenbarung" reagieren. Sie reagieren gut, d.h., viele sind angeregt, erheitert, nachdenklich gestimmt, jedenfalls auf irgendeine Weise berührt. Nicht alle natürlich. Es hängt an der Bereitschaft der Besucher, sich auf das Angebot einzulassen. Die Fortschrittsthematik gibt den Rahmen ab, aber darin ist Vieles möglich. Sehr existenzielle Gespräch, aber auch quälender Smalltalk und der mühsame Versuch, irgendwie ein Gespräch am Leben zu erhalten.
Am heutigen Abend berichtete eine Interpretin, ein Besucher habe gemeint, es gebe nur technischen Fortschritt, in keiner anderen Hinsicht könne von Fortschritt die Rede sein.
Das bringt mich auf die zweite und entscheidende Frage: Gibt es einen Fortschritt in anderen Hinsichten und auf anderen Ebenen als auf der technisch-naturwissenschaftlichen? Als Theologe bin ich an diesem Punkt eher skeptisch. Auch als ein Beobachter der bisherigen Menschheitsgeschichte kann keine Euphorie aufkommen. Da scheint mir das Bild von Walter Benjamin treffend, der in seinen berühmten geschichtsphilosophischen Thesen den Engel der Geschichte beschreibt, der in die Vergangenheit blickt und dort nur "eine einzige Katastrophe" erblickt, die "unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagen zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm." Diese Sicht konvergiert mit der theologischen. Die theologische Sicht geht ebenfalls vom Zustand wiederholten Scheiterns aus. Mit dem Scheitern ist zu rechnen. Ein Fortschritt zum Himmelreich ist nicht möglich. Es gibt nur vorübergehende Besserungen. Ein qualitativer Sprung bedürfte eines neuen Menschen, einer neuen Schöpfung. Denn die vorhandene ist zweideutig. Wer wollte das leugnen?
Jörg Herrmann
Sonntag, 14. Januar 2007
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