Leider melde ich mich wieder einmal mit einem Tag Verspätung. Es ging nicht anders. Als ich gestern um 18 Uhr von meiner Schicht im Kunstverein kam, war noch einzukaufen. Dann die Gäste und es wurde spät, zu spät.
Zwei BesucherInnen sind mir noch besonders im Gedächtnis. Eine mittelalte Frau und ein noch etwas jüngerer Mann mit schwarzen Haaren. Bei der Frau wagte ich einen recht persönlichen Einstieg. Ich hatte aufgeschnappt, dass sie von der Reife des Kindes am Eingang beeindruckt war. Auf der Basis dieser Wahrnehmung stieg ich mit der Beobachtung ein, dass mir bei meiner vierjährigen Tochter schon wiederholt aufgefallen ist, wie viel sie schon kann, und dass ich bei ihr, aber auch bei anderen Kindern gelegentlich den Eindruck habe, sie seien viel kompetenter als ich selbst es im gleichen Alter war. Die Besucherin stimmt mir zu, sie mache ähnliche Beobachtungen und wir vermuten, dass es sich um einen Trend handelt. Hat sich also die Entwicklung der Kinder beschleunigt, lassen diese Beobachtungen im Blick auf die Verbesserung des Menschen und der Welt hoffen? Wir räsonnieren noch ein wenig über diese Frage, ohne konkretes Ergebnis, aber in einer freundlichen spekulativ-meditativen Atmosphäre. Bis ich schließlich verschwinde.
Der Mann ist demgegenüber ein harter Brocken. Er entpuppt sich bald als Künstler und will genau das tun, was Tino Sehgal als Todsünde gebrandmarkt hat: er will über die "Arbeit" von Sehgal sprechen. Ich erläutere ihm, dass ich, wenn ich mich darauf einlasse, ein Tabu verletze, dass mir aber in der Freiheit des Interpreten diese Überschreitung erlaubt ist und ich also ausnahmsweise auf seinen Wunsch eingehen wolle. Der Künstlerbesucher moniert gleich zu Beginn, dass das aufgeführte Werk von Sehgal "zu offen" sei. Er habe in Berlin schon etwas anderes gesehen, erlebt, dass ihm weitaus besser gefallen habe. Der Zuschauer wurde dort mehr bedrängt und herausgefordert, die Hamburger Anordnung plätschere demgegenüber so vor sich hin und sei ihm letztlich "zu lahm". An genau diesem Punkt beschleunige ich mit schnellen Schritten und entziehe ich mich der Kommunikation und lasse ihn mit seiner Klage über die Lahmheit allein zurück.
Es hängt natürlich bei dieser "Arbeit" ganz klar an dem, was sich jeweils zwischen BesucherIn und InterpretIn ergibt. Das kann lahm sein oder werden, kann aber auch erstaunliche Intensitäten erreichen, die Intensität von Gesprächen, wie man sie auch aus Begegnungen in Zügen kennt, wo man weiß, dass man seine GesprächspartnerIn vermutlich nie wiedersehen wird, was manchmal dazu ermutigt, in durchaus unüblicher Offenheit miteinander zu sprechen. Gespräche unterwegs sozusagen, während des Gehens und Fahrens. Im Neuen Testament gibt es auch so ein Gespräch auf Reisen: Philippus steigt beim Kämmerer auf den Wagen (Apostelgeschichte 8, 26-42). Während der Fahrt nach Jerusalem redet er mit dem Gottsucher aus dem Morgenland, erläutert ihm den Propheten Jesaja. Dem Kämmerer erschließt sich daraufhin der Sinn der neuen Religion der Christen und er will prompt getauft werden. Das geschieht auf der Stelle, als ein Fluss in Sicht kommt, und, so heißt es weiter, "er aber zog seine Strasse fröhlich". Das Reisegespräch, die Kommunikation von Unterwegsseienden ist hier von existenzieller Bedeutung. Fahrende und Gehende, die Schrift und Erfahrung interpretativ erschließen, können sich offenbar zu einschneidenden Einsichten verhelfen. Warum sollte das nicht auch für den Kunstverein gelten? Man müsste die BesucherInnen einmal befragen und eine qualitative Studie durchführen.
Ich melde mich erst im neuen Jahr wieder, am 4. Januar oder auch, wenn es wieder eng wird, erst am 5. Januar. Frohes Feiern und bis dahin,
Jörg Herrmann
Samstag, 23. Dezember 2006
Samstag, 16. Dezember 2006
Fortschrittsfetzen
Eigentlich wollte ich ja schon gestern schreiben. Aber als ich um 23.55 Uhr schließlich so weit war, an das Bloggen denken zu können, da war es einfach zu spät, waren die Grenzen des Körpers erreicht und überschritten. So musste dieser kleiner Bericht über meine Nachmittagsschicht am gestrigen 15. Dezember als Interpret von Tino Sehgals Arbeit "Dieser Fortschritt" im Hamburger Kunstverein bis jetzt warten.
Mein letzter Auftritt lag zwei Wochen zurück und ich war gespannt, von den anderen zu hören, wie sich die Resonanz entwickelt hatte. Als ich in den Aufenthaltsraum der Mitwirkenden eintrat, wurde ich zu meiner Überraschung von einem mir bisher noch unbekannten Interpretenkollegen namentlich begrüßt. Es stellte sich heraus, dass er vor einigen Jahren an einem Kunsthistorischen Seminar über Religion im populären Film teilgenommen hatte, das ich geleitet hatte. Damals hatte er sich als erbitterter Gegner meiner Thesen profiliert. Heute, so bemerkt er, stimme er mir vollkommen zu. Die siebte Kunst, das Kino sei voller Religion. Späte, unerwartete Versöhnung.
Doch was ist mit der Kunst von Tino Sehgal? Und wer will diese Kunst sehen? Eine Kunst, die man nicht greifen kann und die sich je anders vollzieht, die man sich nicht an die Wand hängen kann und deren Qualität von der kontingenten Begegnung von Menschen abhängt.
Kaum BesucherInnen am Vormittag berichtet man mir, auch gestern wenig Zuspruch. Aber es hatte auch schon andere Tage gegeben, mit Schlangen und Engpässen.
Heute sah jedoch alles nach einigen Plauderstündchen mit meinen Mitinterpreten aus und nach "Zeit"-Lektüre, nach Unterbrechung, die man besonders als Theologe in der Adventszeit gut gebrauchen kann, nach Religion also, traut man der laut Johann Baptist Metz kürzesten Definition für Religion: Unterbrechung eben.
Doch nach vielleicht vierzig Minuten kommt das Hey. Besucher gesichtet. Rezipienten. Betrachter. Publikum. Auf die Plätze. Von nun an geht es Schlag auf Schlag. Ich kehre gar nicht mehr in unseren Aufenthaltsraum zurück, schaue nur, ob sich nach meinem Auftritt wieder neue BesucherInnen im Anmarsch befinden und nehme gleich meinen Lauschposten im Turm ein. Es geht nun wirklich los und ab, so dass es schwierig wird, die Gespräche auseinanderzuhalten und sich die Erinnerungen daran bis heute vollends zu einem Konglomerat von Themen und Fetzen vermischt haben.
Am besten war gestern, als wir in der letzten ruhigen halben Stunde Rückschau auf die Besucher hielten, unser ältester Mann orientiert, der Kollege Hans-Jürgen, der mich auf dem Parcour ablöst, indem er den Besuchern entgegentritt, wenn ich am Ende meines Kurses mit schnellen Schritten in einer Raumspalte verschwinde. Er kann sich offenbar leichter und präziser erinnern, vielleicht auch, weil sein Auftritt mit einer stärkeren von ihm selbst gestalteten Setzung verbunden ist. Er hält den BesucherInnen nämlich einen kleinen Vortrag, beansprucht aufgrund seines Alters mehr Autorität als ich, der ich nur auf einem bestimmten Kurs mit ihnen durch die Räume schlendere und mich bemühe, ein Gespräch zu führen, das vorher Gesagtes und Belauschtes aufgreift und sich dabei, ganz grob jedenfalls, im Rahmen der Fortschrittsthematik bewegt.
Was mich jedenfalls heute noch beschäftigt: Die Ethnologin, der ich mit meiner Frage nach den Maßstäben für ein Besser oder Schlechter entgegengetreten war und die mir mit einem gruppenbezogenen Werterelativismus geantwortet hatte. Die Deklaration der Menschenrechte hätten Anthropologen und Ethnologinnen auf der Basis dieses Konzeptes als imperialen und darum abzulehnenden Universalismus gebrandmarkt, als Versuch einer Gruppe, der Welt ihre Werte aufzwängen. Jede Gruppe sollte hingegen nach den in ihrem Kontext gewachsenen Regel leben können, ohne Störungen und Einmischungen von außen. Aber, so frage ich zurück, sollen wir dann die Ehrenmorde akzeptieren und die Genitalverstümmelung bei afrikanischen Mädchen? So will sie nicht verstanden werden: Wenn andere Gruppen mit differenten Wertesystemen bei uns leben, in unserem Rechtsraum, dann müsste solches Verhalten selbstverständlich am hier geltenden Recht gemessen werden und Verstöße geahndet werden. Wir kommen darauf, dass die Globalisierungsdynamik natürlich das Problem der Verständigung und der Konflikte verschärft. Aber ehe wir diese Frage nach dem Verhältnis von Wertepluralismus, Werterelativismus und einheitlichen Rechtsräumen vertiefen können, bin ich verschwunden. Hans-Jürgen übernimmt.
Fortschritt, ein vieldeutiger Begriff. Technischer Fortschritt, moralischer Fortschritt. Dazwischen liegen Welten. Und nicht zuletzt persönlicher Fortschritt. Aber was ist das? Darum dreht sich zunächst das Gespräch mit zwei etwas älteren Damen und einem Herrn. Der Mann wirft ein, dass es, wenn man Luthers Theologie ernst nehme, eigentlich keinen Fortschritt geben könne. Der Mensch, dem Scheitern und der Sünde ausgeliefert. Warum rackern wir uns dann so ab? Warum die Mühen, wenn der Fortschritt in Sachen Gerechtigkeit doch nur ein vorübergehendes Aufbäumen ist, dessen Effekte verpuffen?
Irgendwann kommt ein Kunstseminar und bringt unweiterlich seine Themen mit. Drei junge Studentinnen. Wir sprechen über Konkurrenz und Wettbewerb. Der oder die beste solle gewinnen. Ich will jetzt doch mal wissen, wie diese jungen Frauen ihre ganz persönliche Berufsperspektive sehen. Die Statistiken sprechen bekanntlich eine eindeutige Sprache: nur wenige Prozent der KunstabsolventInnen können später von ihrer Kunst leben. Ja, das sei ihnen bewußt. Aber sie würden schon mit dem Ehrgeiz antreten, einmal zu diesen Wenigen gehören zu wollen. Hier muss man an sich glauben. Ob sie das auch so sehe, frage ich eine der drei Ladies, die sich bisher kaum geäußert hatte. Früher schon, aber, so räumt sie ein, mit den Jahren des Studiums sei auch Ernüchterung eingekehrt. Immerhin könne man ja auch andere Jobs machen, um seine Brötchen zu verdienen. Kunst und Kellnern? Während Meese und Richter absahnen, weil ihre Sachen gerade passen, weil sie Glück haben: weil die Kombination aus genetischen Voraussetzungen, biographischen Hintergründen, individueller Ambition und soziokultureller Position gerade ins Bild passt. Kunst-Lotterie. Wenige Hauptgewinner, viele Verlierer. Teilnehmen bedeutet die Chance auf einen Hauptgewinn, aber die Wahrscheinlichkeit leer auszugehen, ist, wie beim Lotto, unendlich viel größer. Diese drei haben sich für die Teilnahme entschieden. Glückauf!
Zum Glück, so assoziiert der Theologe, ist Weihnachten immer noch eine Veranstaltung, bei der im Prinzip alle beschenkt werden oder jedenfalls beschenkt werden sollen. Eine Veranstaltung gegen das Lotterie-Prinzip. Jedenfalls von seinen Wurzeln her gesehen.
Ich melde mich am 29. Dezember wieder an dieser Stelle.
Bis dahin: frohe Weihnachten!
Jörg Herrmann
Mein letzter Auftritt lag zwei Wochen zurück und ich war gespannt, von den anderen zu hören, wie sich die Resonanz entwickelt hatte. Als ich in den Aufenthaltsraum der Mitwirkenden eintrat, wurde ich zu meiner Überraschung von einem mir bisher noch unbekannten Interpretenkollegen namentlich begrüßt. Es stellte sich heraus, dass er vor einigen Jahren an einem Kunsthistorischen Seminar über Religion im populären Film teilgenommen hatte, das ich geleitet hatte. Damals hatte er sich als erbitterter Gegner meiner Thesen profiliert. Heute, so bemerkt er, stimme er mir vollkommen zu. Die siebte Kunst, das Kino sei voller Religion. Späte, unerwartete Versöhnung.
Doch was ist mit der Kunst von Tino Sehgal? Und wer will diese Kunst sehen? Eine Kunst, die man nicht greifen kann und die sich je anders vollzieht, die man sich nicht an die Wand hängen kann und deren Qualität von der kontingenten Begegnung von Menschen abhängt.
Kaum BesucherInnen am Vormittag berichtet man mir, auch gestern wenig Zuspruch. Aber es hatte auch schon andere Tage gegeben, mit Schlangen und Engpässen.
Heute sah jedoch alles nach einigen Plauderstündchen mit meinen Mitinterpreten aus und nach "Zeit"-Lektüre, nach Unterbrechung, die man besonders als Theologe in der Adventszeit gut gebrauchen kann, nach Religion also, traut man der laut Johann Baptist Metz kürzesten Definition für Religion: Unterbrechung eben.
Doch nach vielleicht vierzig Minuten kommt das Hey. Besucher gesichtet. Rezipienten. Betrachter. Publikum. Auf die Plätze. Von nun an geht es Schlag auf Schlag. Ich kehre gar nicht mehr in unseren Aufenthaltsraum zurück, schaue nur, ob sich nach meinem Auftritt wieder neue BesucherInnen im Anmarsch befinden und nehme gleich meinen Lauschposten im Turm ein. Es geht nun wirklich los und ab, so dass es schwierig wird, die Gespräche auseinanderzuhalten und sich die Erinnerungen daran bis heute vollends zu einem Konglomerat von Themen und Fetzen vermischt haben.
Am besten war gestern, als wir in der letzten ruhigen halben Stunde Rückschau auf die Besucher hielten, unser ältester Mann orientiert, der Kollege Hans-Jürgen, der mich auf dem Parcour ablöst, indem er den Besuchern entgegentritt, wenn ich am Ende meines Kurses mit schnellen Schritten in einer Raumspalte verschwinde. Er kann sich offenbar leichter und präziser erinnern, vielleicht auch, weil sein Auftritt mit einer stärkeren von ihm selbst gestalteten Setzung verbunden ist. Er hält den BesucherInnen nämlich einen kleinen Vortrag, beansprucht aufgrund seines Alters mehr Autorität als ich, der ich nur auf einem bestimmten Kurs mit ihnen durch die Räume schlendere und mich bemühe, ein Gespräch zu führen, das vorher Gesagtes und Belauschtes aufgreift und sich dabei, ganz grob jedenfalls, im Rahmen der Fortschrittsthematik bewegt.
Was mich jedenfalls heute noch beschäftigt: Die Ethnologin, der ich mit meiner Frage nach den Maßstäben für ein Besser oder Schlechter entgegengetreten war und die mir mit einem gruppenbezogenen Werterelativismus geantwortet hatte. Die Deklaration der Menschenrechte hätten Anthropologen und Ethnologinnen auf der Basis dieses Konzeptes als imperialen und darum abzulehnenden Universalismus gebrandmarkt, als Versuch einer Gruppe, der Welt ihre Werte aufzwängen. Jede Gruppe sollte hingegen nach den in ihrem Kontext gewachsenen Regel leben können, ohne Störungen und Einmischungen von außen. Aber, so frage ich zurück, sollen wir dann die Ehrenmorde akzeptieren und die Genitalverstümmelung bei afrikanischen Mädchen? So will sie nicht verstanden werden: Wenn andere Gruppen mit differenten Wertesystemen bei uns leben, in unserem Rechtsraum, dann müsste solches Verhalten selbstverständlich am hier geltenden Recht gemessen werden und Verstöße geahndet werden. Wir kommen darauf, dass die Globalisierungsdynamik natürlich das Problem der Verständigung und der Konflikte verschärft. Aber ehe wir diese Frage nach dem Verhältnis von Wertepluralismus, Werterelativismus und einheitlichen Rechtsräumen vertiefen können, bin ich verschwunden. Hans-Jürgen übernimmt.
Fortschritt, ein vieldeutiger Begriff. Technischer Fortschritt, moralischer Fortschritt. Dazwischen liegen Welten. Und nicht zuletzt persönlicher Fortschritt. Aber was ist das? Darum dreht sich zunächst das Gespräch mit zwei etwas älteren Damen und einem Herrn. Der Mann wirft ein, dass es, wenn man Luthers Theologie ernst nehme, eigentlich keinen Fortschritt geben könne. Der Mensch, dem Scheitern und der Sünde ausgeliefert. Warum rackern wir uns dann so ab? Warum die Mühen, wenn der Fortschritt in Sachen Gerechtigkeit doch nur ein vorübergehendes Aufbäumen ist, dessen Effekte verpuffen?
Irgendwann kommt ein Kunstseminar und bringt unweiterlich seine Themen mit. Drei junge Studentinnen. Wir sprechen über Konkurrenz und Wettbewerb. Der oder die beste solle gewinnen. Ich will jetzt doch mal wissen, wie diese jungen Frauen ihre ganz persönliche Berufsperspektive sehen. Die Statistiken sprechen bekanntlich eine eindeutige Sprache: nur wenige Prozent der KunstabsolventInnen können später von ihrer Kunst leben. Ja, das sei ihnen bewußt. Aber sie würden schon mit dem Ehrgeiz antreten, einmal zu diesen Wenigen gehören zu wollen. Hier muss man an sich glauben. Ob sie das auch so sehe, frage ich eine der drei Ladies, die sich bisher kaum geäußert hatte. Früher schon, aber, so räumt sie ein, mit den Jahren des Studiums sei auch Ernüchterung eingekehrt. Immerhin könne man ja auch andere Jobs machen, um seine Brötchen zu verdienen. Kunst und Kellnern? Während Meese und Richter absahnen, weil ihre Sachen gerade passen, weil sie Glück haben: weil die Kombination aus genetischen Voraussetzungen, biographischen Hintergründen, individueller Ambition und soziokultureller Position gerade ins Bild passt. Kunst-Lotterie. Wenige Hauptgewinner, viele Verlierer. Teilnehmen bedeutet die Chance auf einen Hauptgewinn, aber die Wahrscheinlichkeit leer auszugehen, ist, wie beim Lotto, unendlich viel größer. Diese drei haben sich für die Teilnahme entschieden. Glückauf!
Zum Glück, so assoziiert der Theologe, ist Weihnachten immer noch eine Veranstaltung, bei der im Prinzip alle beschenkt werden oder jedenfalls beschenkt werden sollen. Eine Veranstaltung gegen das Lotterie-Prinzip. Jedenfalls von seinen Wurzeln her gesehen.
Ich melde mich am 29. Dezember wieder an dieser Stelle.
Bis dahin: frohe Weihnachten!
Jörg Herrmann
Donnerstag, 30. November 2006
Hey
Donnerstag, 30. November. High Noon am Tag der Eröffnung einer Ausstellung von Tino Sehgal. "Hey" ruft eine Stimme in den Treppenaufgang zum Bürotrakt des Hamburger Kunstvereins. Das ist mein, unser Einsatz. Ich springe auf, Treppe runter, dann gemessenen Schrittes durch das Foyer Richtung Ausgang, links auf den Parkplatz, über den Parkplatz in den Turm. Dort gehe ich auf den ersten Stufen der Turmtreppe in Stellung und beoachte den Eingangsbereich. Es ist ziemlich laut hier, der Verkehr zwischen der nördlichen Deichtorhalle und dem Kunstverein rauscht, hinter mir der Hauptbahnhof, Züge rumpeln über die Gleise. Ich lausche, denn zu lauschen ist hier meine Aufgabe, irgendetwas aufzuschnappen von der Unterhaltung der beiden, die dort gleich um die Ecke biegen werden und in den Turm eintreten werden: ein Besucher der Ausstellung und ein Interpret.
Ja, wir sind die Interpreten des Werkes von Tino Sehgal. Wir sind mehr als Laiendarsteller, denn die müssen ja eine ziemlich genau definierte Rolle ausfüllen. Wir hingegen haben Spielraum, Freiheit, das macht die Sache leicht und schwer zugleich.
Wer mag da gleich mit Tobias um die Ecke kommen. Ein Mann, eine Frau? Wie wird es mir gelingen, mit ihr, mit ihm ins Gespräch zu kommen? Aha, aufgepasst. Ein älterer Herr, um die 60. Altachtundsechziger? Es ist laut, Züge rattern, ich verstehe kein Wort, muss die Treppe rauf, aber in der Nähe bleiben, unerkannt möglichst, jedenfalls mein Gesicht sollen die Besucher nicht sehen. Eine Beschattungsaufgabe, ein Stück Stasi sozusagen. Aber nicht in drangsalierender Absicht. Das einzige, was ich aufschnappen kann: es geht irgendwie um die FAZ, die Frankfurter Allgemeine Zeitung, laut Rudolf Augstein die "vielleicht wichtigste Zeitung im Land". Die "vielleicht beste Zeitung im Land" war seiner Meinung nach allerdings die Süddeutsche. Ich lese die taz und bleibe dran, eile auf meine nächste Position. Die Stimmen kommen näher. Dann trete ich hervor, biege um die Ecke, mische mich ein. Mit einem Satz, der Gehörtes aufnimmt und ein Gespräch eröffnet. "Ich habe den Eindruck, dass sich die FAZ in den letzten 30 Jahren sehr verändert hat." Der Besucher ist einen Moment irritiert über mein Hereinplatzen. "Ja", sagt er dann, "das kann man sagen." "Das ist Jörg", stellt mich Tobias vor. Wir schlendern weiter durch die weißen, hellen Räume des Kunstvereins, das Gespräch dreht sich um die FAZ, der Besucher ist der Meinung, dass insbesondere die Kulturseiten zu bloßen Propagandainstrumenten eines Herrn Schirrmacher heruntergekommen seien, der mit Aust, Diekmann und Döpfner unter einer Decke stecke. Wir treten in einen weiteren Raum ein. Tobias ist mittlerweile verschwunden. Der Besucher notiert es und irgendwie kommen wir durch sein Bemerken auf die Lage der Generation des 19-jährigen Tobias zu sprechen, der berühmten Generation Praktikum, einer Generation, nach der niemand ruft. Ganz anders, bemerkt mein Gesprächspartner, als zu seiner Zeit. Er habe direkt nach dem Studium eine ganze Reihe von Arbeitsangeboten erhalten, ohne sich überhaupt groß beworben zu haben. Dieser Unterschied beschäftigt uns weiter, die Kontingenz der eigenen Position in der Geschichte, eine Position der offenen oder geschlossenen Türen, Situationen, die man nicht beeinflussen kann, in die man hineingeworfen ist, mit denen man zurechtkommen muss. Ist das gerecht?
Wir nähern uns dem Raum drei. Es geht auf den Spalt zu. Zwei schnelle Schritte und ich verschwinde in der Lücke, meine Kollege tritt hervor, nennt seinen Namen und sagt: "Der Titel dieser Arbeit lautet: Dieser Fortschritt."
Manche dieser Gespräche beschäftigen einen noch länger. Hier die Wahrnehmung der generationellen Positionalität: dem einen standen alle Türen offen, gut dreißig Jahre später sieht die Welt ganz anders aus. Höhere Gewalt? Warum?
Ich melde mich wieder am Freitagabend, 15. Dezember, nach meiner nächsten "Schicht".
Bis dahin,
Jörg Herrmann
Ja, wir sind die Interpreten des Werkes von Tino Sehgal. Wir sind mehr als Laiendarsteller, denn die müssen ja eine ziemlich genau definierte Rolle ausfüllen. Wir hingegen haben Spielraum, Freiheit, das macht die Sache leicht und schwer zugleich.
Wer mag da gleich mit Tobias um die Ecke kommen. Ein Mann, eine Frau? Wie wird es mir gelingen, mit ihr, mit ihm ins Gespräch zu kommen? Aha, aufgepasst. Ein älterer Herr, um die 60. Altachtundsechziger? Es ist laut, Züge rattern, ich verstehe kein Wort, muss die Treppe rauf, aber in der Nähe bleiben, unerkannt möglichst, jedenfalls mein Gesicht sollen die Besucher nicht sehen. Eine Beschattungsaufgabe, ein Stück Stasi sozusagen. Aber nicht in drangsalierender Absicht. Das einzige, was ich aufschnappen kann: es geht irgendwie um die FAZ, die Frankfurter Allgemeine Zeitung, laut Rudolf Augstein die "vielleicht wichtigste Zeitung im Land". Die "vielleicht beste Zeitung im Land" war seiner Meinung nach allerdings die Süddeutsche. Ich lese die taz und bleibe dran, eile auf meine nächste Position. Die Stimmen kommen näher. Dann trete ich hervor, biege um die Ecke, mische mich ein. Mit einem Satz, der Gehörtes aufnimmt und ein Gespräch eröffnet. "Ich habe den Eindruck, dass sich die FAZ in den letzten 30 Jahren sehr verändert hat." Der Besucher ist einen Moment irritiert über mein Hereinplatzen. "Ja", sagt er dann, "das kann man sagen." "Das ist Jörg", stellt mich Tobias vor. Wir schlendern weiter durch die weißen, hellen Räume des Kunstvereins, das Gespräch dreht sich um die FAZ, der Besucher ist der Meinung, dass insbesondere die Kulturseiten zu bloßen Propagandainstrumenten eines Herrn Schirrmacher heruntergekommen seien, der mit Aust, Diekmann und Döpfner unter einer Decke stecke. Wir treten in einen weiteren Raum ein. Tobias ist mittlerweile verschwunden. Der Besucher notiert es und irgendwie kommen wir durch sein Bemerken auf die Lage der Generation des 19-jährigen Tobias zu sprechen, der berühmten Generation Praktikum, einer Generation, nach der niemand ruft. Ganz anders, bemerkt mein Gesprächspartner, als zu seiner Zeit. Er habe direkt nach dem Studium eine ganze Reihe von Arbeitsangeboten erhalten, ohne sich überhaupt groß beworben zu haben. Dieser Unterschied beschäftigt uns weiter, die Kontingenz der eigenen Position in der Geschichte, eine Position der offenen oder geschlossenen Türen, Situationen, die man nicht beeinflussen kann, in die man hineingeworfen ist, mit denen man zurechtkommen muss. Ist das gerecht?
Wir nähern uns dem Raum drei. Es geht auf den Spalt zu. Zwei schnelle Schritte und ich verschwinde in der Lücke, meine Kollege tritt hervor, nennt seinen Namen und sagt: "Der Titel dieser Arbeit lautet: Dieser Fortschritt."
Manche dieser Gespräche beschäftigen einen noch länger. Hier die Wahrnehmung der generationellen Positionalität: dem einen standen alle Türen offen, gut dreißig Jahre später sieht die Welt ganz anders aus. Höhere Gewalt? Warum?
Ich melde mich wieder am Freitagabend, 15. Dezember, nach meiner nächsten "Schicht".
Bis dahin,
Jörg Herrmann
Sonntag, 26. November 2006
Ein Kunstwerk werden
Am Donnerstag dieser Woche, am 30. November 2006, werde ich Teil eines Kunstwerkes von Tino Sehgal. Dann eröffnet Tino Sehgal seine Ausstellung im Hamburger Kunstverein. Ich werde in dieser Ausstellung mitwirken und mithelfen, seine Idee interpretierend zur Aufführung zu bringen.
Wie fühlt man sich als Teil eines Kunstwerkes? Was gibt es dabei zu erleben? Wie ist es, betrachtet und erfahren zu werden? Wer wird kommen? Und wie vor allem wird sich all dies aus der Perspektive eines theologischen Beobachters ausnehmen, der ich bin? Ich werde darüber einmal in der Woche berichten und die Erfahrungen meiner wöchentlichen Dreieinhalbstundenschicht in Tino Sehgals Choreographie an dieser Stelle veröffentlichen.
Am Donnerstagabend können Sie meine ersten Notizen lesen. Also, schauen Sie dann mal rein.
Bis dahin,
Jörg Herrmann
Wie fühlt man sich als Teil eines Kunstwerkes? Was gibt es dabei zu erleben? Wie ist es, betrachtet und erfahren zu werden? Wer wird kommen? Und wie vor allem wird sich all dies aus der Perspektive eines theologischen Beobachters ausnehmen, der ich bin? Ich werde darüber einmal in der Woche berichten und die Erfahrungen meiner wöchentlichen Dreieinhalbstundenschicht in Tino Sehgals Choreographie an dieser Stelle veröffentlichen.
Am Donnerstagabend können Sie meine ersten Notizen lesen. Also, schauen Sie dann mal rein.
Bis dahin,
Jörg Herrmann
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